Italia 2018

16. November 2018 von Noah in Reisen

Bereits zum zweiten Mal folgte das Landesjugendorchester Hamburg der Einladung des Internationalen Festivals für Jugendorchester Florenz. Gemeinsam mit dem Landesjugendjazzorchester Hamburg trat das Landesjugendorchester Hamburg vom 5. Juli bis 15. Juli 2018 im Rahmen von fünf Konzerten in Nord- und Mittelitalien, so in Spessa Po bei Piacenza, beim Summer Festival in Cremona, beim Festival Orchestre Giovanili auf der Piazza della Signoria in Florenz, in der Terme Tetuccio in Montecatini Terme und auf der Piazza del Duomo in San Gimignano, auf.

Die beiden Ensembles präsentierten unter der Leitung der Dirigenten Justus Tennie (LJO HH) und Lars Seniuk (LJJO HH) sowohl Ausschnitte aus dem Programm der vergangenen Arbeitsphasen als auch das genreübergreifende Werk Spectrum für Trompete, Jazz-Trio und Sinfonieorchester von J. A. Keller unter der Leitung von Lars Seniuk; Solist von Spectrum war der Jazztrompeter Ingolf Burkhardt. Stadtbesichtigungen von Cremona, Mailand, Montecatini, Lucca, Florenz und San Gimignano rundeten das Programm der Reise ab. Die Konzertreise wurde mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amtes, des Goethe-Instituts, der Behörde für Kultur und Medien Hamburg sowie privater Sponsoren realisiert. Wir bedanken uns im Namen aller Beteiligten sehr für diese Förderung.

Bericht

Der Leihtransporter ist vor den grauen Stufen zu unserem Probenort an den Landungsbrücken geparkt, als die Mitglieder von Landesjugend- und Landesjugendjazzorchester Hamburg nacheinander den Treffpunkt erreichen. Wir strömen in die etwas verspätet eingetroffenen Busse. Einige laufen noch zwischen den Sitzen umher. Es ist unruhig bis der Bus in Bewegung kommt und wir nicht mehr an die Reise denken, sondern reisen. Vorhänge aus grüngrauem Stoff schirmen die Fenster ab. Die Reisenden sitzen in einem blickdichten Korridor und nur durch die große Frontscheibe kommen Straßenlicht und Nachtdunkel herein. Vor Sonnenaufgang sind die meisten von uns wach. Noch immer begleitet uns die Straße. Trotz Zwielicht, trotz lila Wolken und trotz einer aufgehenden Sonne am Straßenrand bleibt die Grenze zwischen Tag und Nacht verwaschen und das Zeitgefühl verschwimmt. Schließlich bringt uns der Film Forrest Gump über die Voralpen, die Alpen, die österreichische Grenze. Es wird gesungen und dabei gehofft, dass die Intonation noch besser werde.

Immer noch etwas verschlafen, jedoch wohlgemut gestimmt, kommt das Orchester nach ca. 1.000 km Busfahrt in Brixen, Italien an. Nach und nach kommt man ins Plaudern und geht dem Drang nach, Freundschaften zu schließen, der im Orchester hohe Priorität hat. Allmählich beginnen sich die Orchestergruppen aus LJO und LJJO zu vermischen, jedoch zeigt sich beim Abendessen, dass das Eis noch nicht ganz gebrochen ist.

Frühstück und Aufbruch zur nächsten Unterkunft. Die Straße fließt zwischen den Felsen hindurch und die Bergmassen schieben sich voreinander. Die Weinhänge liegen verschlafen und zufrieden in der Sonne. Irgendwann flacht das Relief vollkommen ab. Sandbraune Ackerbauflächen wechseln Felsen ab. Immer wieder stehen verwitterte Häuser mit sonnengegerbten Dachziegeln an den Straßen. Der Tennisplatz, braun umzäunt, steht allein und deplatziert. Daneben, gegenüber einem weiten, abgeernteten Acker, steht unser Hotel. Von innen ist es so einfach und schlicht wie von außen.

Ingolf Burkhardt und Jazz-Band bei Kellers “Spektrum”

Ohne lange Pause geht es am Nachmittag zum ersten Konzertort: Ein altes Haus in der Mitte eines großen Gartens mit großzügigem Platz zum Ankommen und Auspacken. Vor dem Konzert gibt es warme Nudeln und frische Aprikosen für die MusikerInnen. Auch wenn die fehlende Harfenistin kurzfristig durch ein E-Piano mit Harfenklang ersetzt werden muss, sieht alles nach einem sehr guten Auftakt für die Konzertreise aus. Beim Aufbauen für die Einspielprobe fällt eine matschige Stelle direkt vor den Füßen der Celli auf – trotz über 30 Grad im Schatten ohne Regen. Das ist zwar etwas seltsam, aber für den Aufbau nicht schlimm. Kaum beginnt die Probe, steigt plötzlich der Wasser spiegel langsam an. Der Geruch bestätigt die schlimmsten Befürchtungen: vor den Füßen der Celli wächst langsam aber sicher ein Gülle-Loch. Damit nicht genug: Zum Auftritt wartet nicht nur das Publikum, sondern auch tausende von Mücken, die begeistert darüber sind, dass sich die MusikerInnen im Scheinwerferlicht kaum wehren. Das Sahnehäubchen wird dem Konzert dann noch durch eine Hornisse aufgesetzt, die unseren ersten Trompeter während der Aufführung von der Bühne jagt. Seinen nächsten Einsatz bekommt er trotzdem. Am Ende bleibt die Hoffnung: Die weiteren Konzerte können nur noch besser werden.

Auf die Nacht folgen eine frühe Probe und der Aufbruch nach Cremona zu unserem nächsten Konzert. Die Straßen und Gassen sind schief, uneben gepflastert. Die Balkone der Häuser sind klein, verschnörkelt, romantisch bewuchert. Der Soundcheck beginnt im Innenhof einer alten Kirche. Hohe Torbögen umranden ihn und eröffnen den Blick auf einen Platz. Die von der Zeit gezeichneten Wände des Hofes schneiden aus dem Himmel ein Viereck. In ihrem Trott laufen Menschen vorbei. Einige unterbrechen ihren Alltag, als sie unter den Torbögen hindurch den Innenhof und den Soundcheck betreten. Ohne die Formalität und Ernsthaftigkeit eines großen deutschen Konzerthauses hören sie zu und beobachten. Konzentriert und ruhig lassen sie sich von den Geräuschen der Stadt um uns herum nicht stören. Vom Soundcheck zum Konzert: Die Wände des Hofes sind mit warmem Licht angestrahlt und die Bühne ist hell erleuchtet. Auf den Stühlen, angelehnt an den Wänden, unter den Durchgängen findet das Publikum, weniger zufällig, aber formlos Platz. Die Partituren dieses Konzerts scheinen Justus auch auf der Heimfahrt nicht loszulassen.

Am nächsten Tag: Eine Fahrt ohne Instrumente, ohne Gepäck. Das Ziel: die touristische Stadt Mailand. Nicht auf Sightseeing-Tour sind nur die VerkäuferInnen an den Straßenständen und die Herren, die uns mit Vogelfutter Tauben auf die Hände locken, damit wir davon Fotos machen und sie dankbar entlohnen. Eine Passage mit einer übermenschlich hohen Glasdecke und einem Mosaik-Boden ist gesäumt mit Gucci, Prada, Louis Vuitton. Ein kleines Mädchen, deren T-Shirt »I’m not the second choice« verkündet, läuft an uns vorbei, als einer von uns sich fragt, auf wie vielen »Touri-Fotos« wir wohl zu sehen sind, ohne es zu wissen.

Durch Alleen fahren die Busse zu den Hotels in Montecatini, unserem letzten Stopp. Die hohen Pinien werfen ihre Schatten auf den abgenutzten und aufgebrochenen Asphalt der Straße. In der Ferne gibt es wieder Hügel. Die abendliche Probe findet im Keller einer Kirche statt. Die Wände verlieren den Putz oder sind mit Eierkartons ausstaffiert.

In Florenz hält auf einer Brücke über dem Arno mit Sicht auf den Ponte Vecchio. Von dort gehen wir durch das überfüllte Chaos der Florentiner Straßen zu unserem Spielort – der Loggia della Signoria. Sie ist so hoch, dass sie ihre Zweckmäßigkeit verliert. Das Orchester spielt unter Steinstatuen von Männern, die kämpfen, siegen oder sterben.

Die MusikerInnen tröpfeln in ihre Plätze. Die Musik prallt über den Platz gegen die geschichtsträchtigen Mauern des Palazzo Vecchio zu unserer Rechten. Als wir spielen, ist der Himmel wolkenlos dunkel, als habe er alle Ereignisse des Tages aufgesogen. Während wir spielen, sind die Geräusche der Umgebung ununterbrochen um uns und fügen das Konzert in die Stadt ein. Menschen kommen zufällig an uns vorbei und entscheiden sich, zu bleiben. So wird die Musik zu einem Teil ihres Alltags. Sie könnten gehen, aber bleiben, stehend oder auf dem abgewetzten Steinboden des Vorplatzes sitzend. Eine Malerin hält die Konzerte fest. Der letzte Taktschlag. Justus strahlt, das Orchester steht, der Applaus brandet. Die Jazzmusik nimmt die Stimmung des Abends auf, nimmt die warme Luft, die leichten Kleider, die glänzenden Gesichter und spielt in ihr weiter.

Ein bisschen lokale Kultur darf am nächsten Tag auch nicht fehlen: Rund eine halbe Stunde von Montecatini entfernt liegt die wunderschöne Stadt Lucca. Ihr Wahrzeichen ist die aus der Renaissance stammende Stadtmauer. Durch die kleinen Gassen der historischen Altstadt wandelnd, trifft man immer wieder vertraute Gesichter, die sich ein Eis gönnen, Souvenirs für Familie und Freunde erstehen oder dem Casa di Puccini einen Besuch abstatten. In den vertrauten Bussen geht es nachmittags zurück ins Hotel, damit wir uns auf den Konzertabend vorbereiten können. Montecatini ist bekannt wegen seiner Therme, einem Gebäude im alt-römischen Stil. Als wir dort nach einigen Minuten verschwitzten Fußweges zu diesem vorletzten Konzertort erscheinen, ist alles vorbereitet, was ein selbstorganisiertes Orchester braucht: fast nichts. Selbst sind die MusikerInnen! Unsere Bühne ist das Ende des Innenhofes der Therme. Während des Aufbaus haben wir Gelegenheit, die Muscheldekorationen zu bewundern, die die Dächer verzieren. Sie werden von starken Säulen getragen, die den Charme der Therme um etwas Protz ergänzen. Das Konzert wird großartig.

Der letzte Konzertort der Reise: San Gimignano. Auf einem Berg stehen die alten Häuser der Stadt aus ungleichen, sonnengebleichten Ziegeln gebaut. Noch immer laufen die alten gepflasterten Straßen auf einen Platz zu. Eine breite Treppe führt zu einer Kirche hinauf. Ihr gegenüber ist unsere Bühne in die Seite eines alten Gemäuers eingelassen. Die hohe Decke über uns wird von zwei Kreuzbögen gehalten, der Boden ist schartig. Bei diesem Konzert tragen die MusikerInnen Sakko und Fliege. Die Stimmung ist dieses Mal festlicher. In der Luft flirrt unsere Aufregung, aber auf den Treppen, im Publikum, beruhigt sich die Nacht nach der Geschäftigkeit des Tages. Und trotzdem hören wir die Stadt und die Sirenen der Feuerwehr, die zwischen uns und dem Publikum hindurchschnellt. Ein Sommerkleid streicht im lauwarmen Wind vor der Bühne, ein Paar tanzt ganz für sich nach der Jazz-Musik vor den Kirchentreppen. Es ist friedlich und manch einer ist zu Tränen gerührt. Für Einige ist es das letzte Konzert mit dem Orchester. Das letzte Konzert mit diesen Freunden und einer gewachsenen Gemeinschaft.

Ein Text von Sarah Lohse, Noah Paul Lummitsch und Kim Wittenburg

Gruppenfoto nach dem letzten Konzert in San Gimignano